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Linien

Antrittsvorlesung an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz

Sehr geehrte Frau Rektorin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende!

Es ist mir eine Ehre, heute meine Antrittsvorlesung an der Anton Bruckner Privatuniversität halten zu dürfen, gleichzeitig auch eine Freude und Erleichterung, dies nicht ganz alleine tun zu müssen.

Mein Thema heute Abend heißt „Linien“, genauer gesagt: Linien II, das ist der Titel eines Zyklus von neun Klarinettenduos, den wir heute Abend – gespielt von Petra Stump-Linshalm und Heinz-Peter Linshalm - hören werden, und zwar zwei Mal: erst jedes Stück einzeln, wobei mir ich zu jedem Stück ein paar analytische oder assoziative Bemerkungen gestatten werde, und dann alle neun Stücke in ununterbrochener Reihenfolge.

3 Funktionen

Gestatten Sie mir zunächst, auf den Begriff „Linie“ etwas näher einzugehen.

Im Lateinischen umfasst das Wort linea drei Bedeutungsfelder: 1.) Richtschnur, Lot; 2.) Strich, Linie, 3.) Grenzlinie, Schranke, Einschnitt  Daraus ergeben sich drei verschiedene Funktionen, die eine Linie haben kann:

1.) Die Linie als Orientierung - man sagt: eine Linie verfolgen, was soviel bedeutet wie: konsequent auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten (z.B. ein künstlerisches Projekt, die Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse oder auch einfach nur die persönliche Karriere)

2.) Die Linie als Verbindung – eine Linie ziehen von A nach B, wobei A und B für Orte, Sachverhalte oder Personen stehen (übersichtlich zusammengefasst werden solche Verbindungen z.B. in Form eines Verkehrsnetzplans, Organigramms oder Stammbaums; oder - spannender: eines Schaubildes in einem Kriminalfall, in dem Personen, Orte und Gegenstände durch Linien miteinander verbunden sind)

3.) Die Linie als Begrenzung - man zieht eine Grenzlinie, die rote Linie, die nicht überschritten werden darf - was sofort die Frage aufwirft, was passiert, wenn man sie trotzdem überschreitet.

Gerade oder ungerade?

In der Geometrie werden Linien gerade gezogen. Gerade Linien versprechen Klarheit, Messbarkeit und Effektivität, sie schaffen Perspektive und erzeugen das Gefühl von Überschaubarkeit und Logik, mitunter sogar von Erhabenheit. Breite Straßen, die wie Schneisen in historisch gewachsene Städte geschlagen wurden, neu gegründete, nach geometrischen Mustern auf dem Reißbrett entworfene Planstädte, Verkehrslinien, die diese Städte auf dem kürzestmöglichen Weg miteinander verbinden, Staatsgrenzen, die schnurgerade entlang eines Längen- oder Breitengrades gezogen wurden: Sie sind Zeichen des Triumphes der Vernunft über die Geschichte, den Raum, die Zeit, die Natur.

Aber: „Die Natur kennt keine geraden Linien! Auch auf dem ganzen Menschen gibt es keine einzige gerade Linie.“, so Friedensreich Hundertwasser, der sein Leben lang gegen die mit dem Lineal gezogene Linie polemisiert hat. „Die gerade Linie führt zum Untergang“, prophezeite er 1953 – ausgerechnet in Paris, der Stadt der Grands Boulevards und Étoiles (in der er sich übrigens sehr wohl gefühlt hat). Als Orientierung sind gerade Linien tatsächlich nicht immer sinnvoll.

Zur Erreichung eines Zieles ist der direkte Weg oft nicht möglich, das weiß jeder Bergsteiger und jeder Politiker. Manches Ziel kann nur auf Umwegen erreicht werden, gestaltet sich auf dem Weg mehrfach um oder wird durch den Weg überhaupt erst definiert. Doch gerade ein immer wieder neu definiertes Ziel behält seine Funktion als Orientierung, auch über sehr lange Zeiträume hinweg (dazu später noch mehr).

Was Verbindungen betrifft, ist der schnellste Weg nicht immer der beste. Ich bin 20 Jahre wöchentlich über die historische Semmeringbahn von Wien nach Graz gefahren und habe den Blick aus dem Fenster jedes Mal ausgekostet. Ich beneide die Reisenden der Zukunft nicht um die halbe Stunde Zeitersparnis, die ihnen die Fahrt durch eine gerade, aber leider finstere Röhre bringen wird.

Im Vergleich zu natürlichen Grenzen erweisen sich gerade gezogene geografische Grenzen wegen ihrer Künstlichkeit als wenig sinnfällig, manchmal sogar als absurd, wenn sie etwa mitten durch Städte oder sogar quer durch einzelne Häuser verlaufen. Auch die persönliche Abgrenzung von Menschen oder Gedanken entlang scharf gezogener Grenzlinien kann sich als problematisch erweisen. Auch die Linie, die Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit voneinander trennt, ist nicht gerade.

Wille zur Begrenzung

Doch egal, ob eine Linie nun gerade oder ungerade ist: sie muss bewusst gezogen werden, sie ist ein willentlicher Akt aufgrund einer bewussten Entscheidung. Die Grenze ist revidierbar, sie ist weniger wichtig als der Akt der Begrenzung selbst:

„Was mich betrifft, so überläuft mich eine Art von Schrecken, wenn ich in dem Augenblick, wo ich mich an die Arbeit begebe, die unendliche Zahl der mir sich bietenden Möglichkeiten erkenne und fühle, dass mir alles erlaubt ist. Wenn mir alles erlaubt ist, das Beste und das Schlimmste, wenn mir nichts Widerstand bietet, dann ist jede Anstrengung undenkbar, ich kann auf nichts bauen, und jede Bemühung ist demzufolge vergebens. (…)

Meine Freiheit besteht also darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe. Ich gehe noch weiter: meine Freiheit wird umso größer und umfassender sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. Wer mich eines Widerstandes beraubt, beraubt mich einer Kraft. Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“

Das schrieb Igor Strawinsky in seiner Musikalische Poetik, einer 1939 an der Harvard University gehaltenen Vorlesungsreihe. Er ist nur einer in einer langen Reihe von Künstlern, der sich mit der Dialektik zwischen globaler Disziplin und lokaler Indisziplin im Schaffensprozess beschäftigten (diese Unterscheidung stammt übrigens von Pierre Boulez).

Freiheit ist nur auf der Grundlage von Regeln zu haben, die die unendliche Vielfalt des Möglichen sinnvoll einschränken; da die Tradition uns diesen regelbestimmten Rahmen nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung stellt, muss der Künstler/die Künstlerin selber für ihn sorgen - und zwar für jedes Stück aufs Neue. Der Erfindung von Regeln und der Umgang damit sind Teil des kreativen Prozesses - das ist nebenbei auch einer der Gründe, warum man im 21. Jahrhundert immer noch Renaissancekontrapunkt, Bach-Choral oder Modulationstechniken lehrt und lernt.

Vor fast 20 Jahren wurde ich um einen kurzen Text gebeten, in dem ich über meinen persönlichen Zugang zum Komponieren Auskunft geben sollte. Damals schrieb ich Folgendes – und erst in der Rückschau erkenne ich die Nähe zum Strawinsky-Zitat von vorhin:

Komponieren heißt für mich Entscheidungen treffen, Grenzen ziehen, Räume abstecken. Ich kann nicht komponieren ohne einen zuvor definierten Entscheidungs-Raum. Die Definition selbst - die Eingrenzung mir möglicher Entscheidungen - wechselt von Stück zu Stück, innerhalb eines Stückes von Satz zu Satz, von Schicht zu Schicht oder von Abschnitt zu Abschnitt. Es gibt keine Grenzen, außer man zieht welche; diese Grenzen können aber jederzeit anders gezogen werden, gerade weil sie nur durch Definition existieren.

Haltung

Man kann Linien ziehen wie man will, aber ziehen muss man sie. Eines geht nämlich nicht: Linien mit Zaubertinte ziehen, also sie ziehen und gleichzeitig nicht gezogen haben wollen. Linie heißt nämlich auch: Haltung - sich einer Sache widmen, sich dauerhaft auf etwas einlassen, zu und für etwas stehen, Verantwortung übernehmen. Ich sage das absichtlich und bewusst angesichts der totalen Verantwortungslosigkeit politischer Entscheidungsträger im In- und Ausland.

Das Stück

Ich möchte Ihnen nun etwas über meine Klarinettenduos erzählen, die während eines sehr langen Zeitraums entstanden sind und deren Entstehung keineswegs geradlinig verlaufen ist - quasi als Illustration dessen, was ich vorher über langfristige Orientierung gesagt habe, aber auch als Ermutigung für jüngere Kolleginnen und Kollegen: wer selbstkritisch seine eigene Arbeit revidiert, braucht Geduld und Beharrlichkeit, um sie zu einem möglichst guten Ende zu bringen. Und: man sollte nicht leichtfertig etwas aufgeben, was man einmal begonnen hat.

Linien II ist das zweite einer Reihe von Stücken, in dem ich mich mit den kompositorischen Gestaltungsmöglichkeiten melodischer Zusammenhänge beschäftigt habe. Von Anfang an war die Idee, einen Zyklus von Duos für verschiedene Klarinetten zu schreiben, der als Ganzes durch einen Abstieg vom höchsten ins tiefste Register der Klarinettenfamilie zusammengehalten wird. Die Stücke sollten sowohl unabhängig voneinander als auch als ununterbrochenes Ganzes gespielt werden können.

Eine erste Version wurde 2001/2002 für Donna und Ernesto Molinari komponiert und 2004 von ihnen uraufgeführt. Von den ursprünglich sieben Stücken wurden zwei verworfen, der Zyklus blieb unfertig jahrelang liegen. 2010 schrieb ich für ein CD-Projekt des Duos Stump-Linshalm die Miniatur Stop and go. Nach dieser ersten, sehr schönen gemeinsamen Erfahrung vergingen drei Jahre, bis sich 2013 eine erneute Zusammenarbeit an dem liegengelassenen Zyklus ergab.

Bis 2015 wurden die vorhandenen fünf Duos überarbeitet, das Duo Stop and go eingebaut und die letzten drei Stücke neu komponiert; später wurden noch drei Zwischenspiele nachkomponiert. Danach dauerte es noch einmal zwei Jahre, bis sich 2017 erste Aufführungsmöglichkeiten ergaben. Letztes Jahr endlich erfolgte schließlich die Studioaufnahme.

Die Motivation, mich über so lange Zeit immer wieder mit dem Parameter „Linie“ zu befassen, beruht auf einer mehrfachen Abgrenzung: auf der einen Seite, sozusagen „nach außen“, als Gegenentwurf zu einer musikalischen Syntax, die auf musikalischen Objekten basiert. Ahnvater dieser Art von Syntax ist der vorher zitierte Igor Strawinsky.

In Opposition zur deutschen Romantik (vor allem zu Wagner, dessen Musik er hasste) bildete Strawinsky musikalische Zusammenhänge nicht durch die Entwicklung von Themen oder Motiven, sondern durch die Aneinanderreihung kurzer, in sich abgeschlossener Zellen, die in einer Art „nicht-entwickelnder Variation“ mehr oder weniger unvorhersehbare Wiederholungsmuster ergaben. Diese Musterbildung findet sich auch bei anderen bedeutenden und einflussreichen Komponisten des 20. und 21 Jahrhunderts wieder, z.B. bei Olivier Messiaen, beim späten Morton Feldman oder bei Salvatore Sciarrino, aber auch bei vielen mithilfe des Computers erstellen Kompositionen: musikalische Objekte und deren Sequenzierung lassen sich nämlich sehr gut programmieren.

Auf ganz anderen Wegen gelangten auch Luigi Nono oder John Cage zu musikalischen Objekten (auch wenn sie sie nicht so nannten): Nono durch die vielfache Fragmentierung kompositorischer Zusammenhänge, Cage durch die bewusste Aushebelung jedes Zusammenhangs zwischen Tönen, Geräuschen und Aktionen. Bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit der eben genannten Komponisten: gemeinsam ist ihrer Musik die Aufsplitterung des musikalischen Flusses in separate, oft klar voneinander abgesetzte Einzelereignisse, und damit verbunden die Etablierung eines nicht-linearen, gewissermaßen verräumlichten Zeitbegriffs.

Fortschritt bedeutet auch Preisgabe. Was man an Neuem gewinnt, verliert man an Altem. Aus dieser Erkenntnis heraus sind die seit den 60-er Jahren einsetzenden Bemühungen zu verstehen, von der Nachkriegsavantgarde verpönte traditionelle Gestaltungsweisen unter neuen Perspektiven wiederzugewinnen. Eine dieser wiederzugewinnenden Gestaltungsweisen war die Melodie als lineare Verbindung bewusst gesetzter Intervalle, eine zweite die zielgerichtete und hörend nachvollziehbare Entwicklung von einem Ausgangs- zu einem Endpunkt (an die Stelle des verstaubten Wortes Entwicklung trat der Begriff Prozess), eine dritte die über eine bloße Anordnung von Tondauern hinausgehende rhythmisch-gestische Artikulation. Als wesentliche Wegbereiter der Wiedergewinnung von Elementen der Tradition nach den grundlegenden Erneuerungen durch die Avantgarde nach 1945 möchte ich vor allem Luciano Berio mit seiner Werkreihe Sequenze für verschiedene Soloinstrumente nennen, außerdem György Ligeti (exemplarisch greife ich ein zu Unrecht wenig gespieltes Werk heraus: seine Melodien – der Titel war im Jahr 1971 eine Provokation), und – eine Generation jünger - Gérard Grisey, Wolfgang Rihm und Brian Ferneyhough, die, grundlegend verschieden und teilweise sogar in scharfer ästhetischer Opposition zueinander, jeder auf seine spezifische Weise Elemente traditionellen Komponierens mit den technischen und ästhetischen Erfahrungen der Avantgarde verschmolzen haben.

Soviel zur ästhetischen Grenze meiner Linien „nach außen“, als Gegenentwurf zu objektorientiertem Komponieren. Es gibt noch eine zweite Grenze „nach innen“: sie verläuft zwischen den einzelnen Duos. Die neun Stücke des Zyklus folgen ganz bewusst sehr verschiedenen kompositionstechnischen Vorgaben – um mit Strawinsky zu sprechen: der Rahmen ist jedes Mal anders gezogen, das Entscheidungsfeld jedes Mal anders abgesteckt. Mein Ehrgeiz war es bei dieser wie bei anderen Kompositionen, die Grenzen des mir Möglichen auszuloten, die einzelnen Stücke so verschiedenen zu komponieren, als seien mehrere Urheber daran beteiligt.

Das möchte ich Ihnen nun anhand einer Kurzbetrachtung der einzelnen Stücke demonstrieren.

Mirrors within Mirrors

in: Gerhard Nierhaus (Hrsg.), Patterns of Intuition - Musical Creativity in the Light of Algorithmic Composition, Springer 2015

Statement

I believe in the meaning of art, in which each artist in his or her work must find and invent a means of expression, which is independent of its use and worth.

I believe in intuition, which through the artist as a person enables a vision of something not yet in existence to emerge, becoming reality uniquely from him or her.

I believe in a communication between the composer and musician, the musician and composer and between the composer and listeners.

I believe in being a self-critic, where a view of one’s own work is as if they had an outsider’s perspective.

I believe in chance, where unexpected results can arise, even with the most detailed planning.

Composing means for me, that decisions are made, “lines are drawn” and constraints are envisaged. I am unable to compose without a selected and defined scope of constraints. The definitions themselves, the containment of my possible decisions, can change from piece to piece and even within that, from movement to movement, from layer to layer or from section to section. I’m interested in the juxtaposition of differently defined regions. It is not about the mediation of opposites, rather it is about the representation and experience of incommensurability.

Personal Aesthetics

I have no personal, recognisable style and I also do not aspire towards one. I attempt, on the other hand, to put out as many different artistic goals from piece to piece as possible, as far as it appears achievable within my means. On the other hand, I often come back to already posed queries and thoughts. Various differing work groups and series are formed, intentionally, where it could appear to have been produced by different composers.

Pieces with implicit or explicit reference to works from past epochs, which will in turn become their own structural foundation, where the association to the original text of “komponierter Interpretation” (Hans Zender), reaches its own full re-forming of the musical material. I have directly referred to compositions of Arnold Schönberg, Johannes Brahms, Anton Webern, Girolamo Frescobaldi and Claude Debussy in a row of pieces and in each case have reworked them in very different ways. There is also, alongside, a reference to one’s own tradition, i.e. fragments from earlier works can become the basis for new compositions.

Pieces, which are conceived as monodic lines and respectively as contrapuntal networks of multiple lines. One of the applied techniques at this juncture is an imprecise mirroring of material, in order to bring forward a self-referential virtual, unending continuity.

Pieces, where non-musical “objets trouvés” are used (for example, sounds of nature) and an attempt to most accurately transcribe these sounds for instrumental music, which implies to refrain mostly from an immanent musical logic, replacing it with a given “extra-musical” sound shape.

Pieces with a spontaneous approach, without premade conscious defined rules: being thrown back on one’s own subjectivitywithout diversion of one’s own decisions made through a self-inflicted resistance.

Pieces especially written for radio, with a focus on text.

Pieces, where the central compositional strategy is based on the reduction of the available means.

Pieces with mixed approaches, which consist of stylistically and technically very different parts. The resulting tension should simultaneously create the impression of incommensurability and the interrelation of individual parts of a composition. It can be seen, that out of these anytime-expandable-categories, my compositional work should reflect our present time, with its abundance of artistic possibilities, but also at the same time should place itself as something new against the virulent questions about the definition and meaning of the artistic subject which has been a theme since the end of the 19th century. 

Lyrik - Musik: Annäherung - Entfremdung

Lieder, Chansons, Madrigale, Songs (um die Liste der je nach Epoche, Sprache und Stil verschiedenen Gattungen bewusst kurz zu halten) sind Zwitterwesen: Text und Musik stehen zueinander in einer gleichsam symbiotischen Beziehung. Beide verbinden sich in einer gemeinsamen Form und intensivieren einander in ihrer Wirkung. Dennoch gehen sie nicht restlos ineinander auf, sondern behalten unabhängig voneinander ihre Autonomie. Sie stehen in einem latenten Spannungverhältnis zwischen größtmöglicher Entsprechung und offenem Widerspruch. Auch wenn die Hörerfahrung prägende Gattungen, vom klassisch-romantischen Klavierlied des 19. Jahrhunderts über Jazzstandards bis zu Rock- und Popsongs, immer noch wirkungsmächtige Paradigmen einer scheinbar selbstverständlichen Deckungsgleichheit beider Medien darstellen: aus einer zeitgenössischen Perspektive ist deren zunehmende Verselbstständigung zu beobachten. Die vorgebliche Einheit von Dichtung und Musik kann nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden. Gesang und Wort sind auseinandergefallen, tradierte Konventionen der Übereinstimmung erscheinen fragwürdig. Korrespondenzen zwischen Wort und Ton müssen von Fall zu Fall aufs neue geschaffen werden.

»Musiktheorie als interdisziplinäres Fach« VIII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie, Graz, 9. bis 12. Oktober 2008

erschienen in: ZGMTH 6/2–3 (2009), Olms

Wie kommt das Böse in die Musik?

oder: Orpheus in der Geisterbahn

erschienen in: Kursiv, Jahrbuch 2006, Die Achse des Guten (1)

Hereinspaziert in die Menagerie des domestizierten Grauens! Füttern Sie das unberechenbare Tier in sich und begeben Sie sich auf eine musikalische Höllenfahrt, bei dem das Böse in uns zum Vorschein kommt und abgründige Triebstrukturen aufbrechen wie eine Eiterblase (suggestiv vertont), aber vergessen Sie auf keinen Fall die an der Kassa aufliegende Broschüre Musikalische Affekte von heute bis vorgestern, damit sie die beschworenen Geister auch korrekt zuordnen können! Übrigens: Das Betreten der Geisterbahn erfolgt auf eigene Gefahr. Falls jemand unsere grenzgängerischen Provokationen in die falsche Kehle kriegt, ist das sein/ihr Problem, jedenfalls übernehmen wir keinerlei Verantwortung, wenn wir missverstanden werden. Ach ja, und Fanpost bitte nur im Notfall.

Das Tor zur Hölle steht also weit offen (das hört man an der Lautstärke der nach draußen dringenden E-Gitarren). Da ich eine Oper über Heinrich Himmler schreiben soll und mir bis jetzt dazu nichts eingefallen ist, nehme ich Platz im delightful horror express und beginne meine Safari ins Herz der Finsternis auf der Suche nach dem musikalischen Ausdrucks des Grauens, des Grauens.

Classical Form. Workshop mit William E. Caplin an der Hochschule für Musik Freiburg, 1.–2. Juli 2005

erschienen in: ZGMTH 2/2-3 (2005), Olms 

Naturgemäß

Deutsche Fassung von By Nature, erschienen in: Claus-Steffen Mahnkopf et al. (Hg), Electronics in New Music, Hofheim 2006

Die beiden Kompositionen Etudes sur la mer und Landschaft mit Flöte I+II sind Teile des Projektes Natur Musik Klang, an dem die Flötistin Sylvie Lacroix, der Elektroakustiker Florian Bogner und ich seit 2002 arbeiten. Ein abschließendes drittes Stück ist für 2005 geplant.

Bevor ich auf die Stücke im einzelnen eingehe, möchte ich drei Punkte skizzieren, die das Projekt als Ganzes betreffen: den konzeptuellen Hintergrund, die Rolle der Elektronik und die Strukturierung des Arbeitsprozesses.

1. Natur/Kunst

Wie der Titel bereits andeutet, geht es in Natur Musik Klang um das Verhältnis von Natur und Kunst, im engeren Sinn um die Auslotung des Spannungsfeldes zwischen natürlichen, instrumentalen und elektronischen Klängen. Zwei konträre Interpretationen der Beziehung von Kunst und Natur spielen dabei eine Rolle:

a) Natur als Urbild der Kunst, Kunst als Nachahmung der Natur

b) Natur und Kunst als unvereinbare Gegensätze, Kunst als Gegenwelt zur Natur.

So gegensätzlich beide Anschauungen auch sind (welche Kämpfe wurden ihretwegen ausgetragen!), kann man sie doch in einigen Aspekten zusammendenken: 

- Natur ist, in welcher Form auch immer, für Kunst konstitutiv. Noch in der entschiedensten Negation ist Natur in Kunst präsent, oder um Wittgenstein zu paraphrasieren: Affirmation und Negation sprechen über dasselbe.

- Natur und Kunst sind kategorial getrennt. Diese Trennung muss nicht unbedingt als bewusster Bruch vollzogen werden, sie zeigt sich paradoxerweise auch da, wo sie scheinbar aufgehoben werden soll. Gerade durch die Nachahmung zeigt sich die Differenz zum Nachgeahmten. Je genauer ein Sonnenuntergang beschrieben, ein Berg gemalt oder das Zwitschern eines Vogels notiert wird, desto mehr erweisen sich die Kunstmittel als selbstbezüglich und dem realen Ereignis oder Gegenstand gegenüber als inkommensurabel.

- Kunst kann nur künstlich sein, „natürliche Kunst“ ist ein Widerspruch in sich. Es hängt von Art und Einsatz der verwendeten Mitteln ab, ob ein Kunstwerk den Eindruck von Natürlichkeit oder Künstlichkeit erweckt. Natürlichkeit und Künstlichkeit sind manipulierbare Parameter.

„Alles ist künstlich, alles ist Kunst. Es gibt keine Natur mehr.“

aus: Daniel Ender, Der Wert des Schöpferischen. Der Erste Bank Kompositionsauftrag 1989–2007. Achtzehn Portraitskizzen und ein Essay

Die Rufe der Zikaden am Beginn von Räume I-IV für raumverteiltes Ensemble und Elektronik (2000), bald gefolgt von Meeresrauschen, Grillen, Bienen und anderem Getier, können im Werk von Alexander Stankovski für eine ästhetische Grundhaltung einstehen. Denn die im Zusammenhang mit solchen akustischen Fundstücken etablierte Klangwelt - oft artifiziell und immer äußerst differenziert - macht erst den Abstand zwischen zwei getrennten Sphären deutlich, wenn hier Laute aus der Natur in das Kunstwerk hereingeholt werden. In die Kunst-Welt transferiert, bringt das konkrete Material aus der so genannten Realität seine Aura mit, streift etwas davon ab und wird anders beleuchtet; umgekehrt wird die Sphäre der Kunst durch die von ihr unterschiedenen Naturklänge, deren Eigenwert unverbrüchlich bleibt, relativiert.

Verhält sich der ins Musikalische transferierte Naturklang für den Komponisten „wie das Verhältnis einer Zeichnung zur Realität“, stellt er also die Differenz zwischen Abbildung und Abgebildetem dar, so ist das Resultat eines solcherart erreichten Nebeneinanders ein beständiger Perspektivenwechsel, eine Verschiebung der Wahrnehmung, die Alexander Stankovski durch eine gleichberechtige Nachbarschaft von Materialschichten, aber auch ein ebenso gleichrangiges Nacheinander von mehreren musiksprachlichen Möglichkeiten erreicht. Auch jenseits der Dichotomie Natur – Kunst untersucht er die Eigengesetzlichkeiten musikalischer „Räume“, wenn er ganz bewusst jeweils nur Ausschnitte aus den schier unbegrenzten klanglichen Möglichkeiten wählt, denen er eine Zeit lang nachspürt, um sie dann wieder jäh zu verlassen. Denn für diesen Komponisten gibt es so etwas wie eine verbindliche Musiksprache nicht, sondern vielmehr eine Pluralität von Sprachen, die er für einen bestimmten Zeitraum setzt, bevor sie anderen weichen.

Christian Baier: Unvermittelt - hinter Glas

Zum Schaffen von Alexander Stankovski: Das Streichtrio (1997/98)

Der 1968 in München geborene Alexander Stankovski studierte an der Wiener Musikhochschule bei Dietmar Schermann und Francis Burt, setzte 1990 bis 1994 seine Studien bei Hans Zender in Frankfurt/Main fort und ist seit 1996 als Lehrbeauftragter an der Musikhochschule Wien in der Kompositionsklasse von Michael Jarrell sowie als Organisator der Konzertreihe Neue Musik aus der Nähe tätig. Ausgezeichnet mit dem Busoni-Förderungspreis der Berliner Akademie der Künste (1992), zwei Arbeitsstipendien der Stadt Wien (1995,1997) und dem Österreichischen Staatsstipendium für Komposition (1995), machte er bei mehreren internationalen Festivals (Schönberg-Festival Duisburg, Musik-Biennale Berlin, Musikprotokoll beim Steirischen Herbst, Wien modern, Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik) und durch Auftragskompositionen (u.a. für das Salzburger Landestheater, das Klangforum Wien, das Ensemble des 20. Jahrhunderts, den ORF) auf sich aufmerksam.

Traditionsbezug und nüchterne Konstruktion

In Stankovskis früheren Arbeiten steht die "Thematisierung der Tradition als fremdes, vergangenes und zugleich vertrautes, nur allzu gegenwärtiges Erbe" im Vordergrund. Das Klaviertrio (1990/93) bezieht sich direkt auf Brahms´ c- moll-Trio, quasi improvvisando für Klavier und Tonband (1992) ist eine mehrschichtige Improvisation über Schönbergs Klavierstück op.19/6, Mêle Moments für Singstimme und Ensemble (1992/95) schließlich verknüpft so unterschiedliche Vorlagen wie Weberns Orchesterlied Wiese im Park op. 13/1 nach Karl Kraus, Josquins fünfstimmige Déploration de Johann Okeghem sowie Texte aus Shakespeares The Tempest und Alessandro Striggios Orfeo. Seit dem Saxophonquartett (1993/94) und den Vier Stücken für (Bass)Klarinette, Violoncello und Klavier (1994/95) manifestiert sich eine dazu gleichsam kontrapunktische Bemühung, "Musik in eine fassliche Form zu bringen, die vom Hörer mitvollziehbar ist und gerade deshalb über ihre Fasslichkeit hinausweist." Musikalisches Material erscheint ohne musikgeschichtliche Konnotierung innerhalb seiner aus ihm generierten Struktur. Das kompositorische Interesse in diesen Stücken gilt der Lesbarkeit der Form, klar dechiffrierbare Techniken treten an die Stelle verschlüsselter Improvisationen über fremde (Noten-)Texte. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Pole finden die seither geschriebenen Kompositionen ihren jeweiligen künstlerischen Standort. Daraus resultiert eine von Stück zu Stück - oder auch von Satz zu Satz - oszillierende Stilistik, die laut Stankovski ihr Vorbild weniger in der Musik als in der Literatur eines Fernando Pessoa oder der Malerei eines Gerhard Richter hat. Zwei Stücke aus jüngster Zeit mögen dies illustrieren:

Der Meister des noch kleineren Übergangs

Das spärlich dokumentierte Werk Gérard Griseys

erschienen in: wespennest 106, 12.03.1997

ICH

1995, unveröffentlicht

Ich bin kein Individuum, kein Unteilbares, nicht-zu-Teilendes, sondern ein "Dividuum", teilbar in vergangene, gegenwärtige und zukünftige Stadien, in verschiedene Lebensbereiche, heterogene Einflüsse, widersprüchliche Haltungen. Ich war Baby, Kind, Jugendlicher, Schüler, Student. Ich bin Sohn, Vater, Mann, Komponist.

Als Komponist (um nur davon zu reden) war und bin ich unterschiedlichsten musikalischen Erfahrungen ausgesetzt. Einige von ihnen sind trotz ihrer offenkundigen Unvereinbarkeit für mich gleichwertig.

Ich interessiere mich für die Darstellung dieser Unvereinbarkeiten.

Der, der ich gegenwärtig bin, zieht (s)eine brüchige einer erfundenen Identität vor.

Karl Heinz Füssl als Lehrer - Erinnerungen, Spuren

in: Karl Heinz Füssl (1924-1992), Wien 1996

"Zusammenhang", "Fasslichkeit", "musikalische Logik": Sind diese Begriffe an die Zweite Wiener Schule gebunden oder können sie auch heute zur Entwicklung neuer formaler Strategien beitragen? Ist es denkbar, diese Prinzipien mit den von der Avantgarde (wieder-)entdeckten Kompositionstechniken - von der getrennten Behandlung der einzelnen Parameter bis zur computerunterstützten Komposition - zu kombinieren? Wäre das vielleicht ein Weg zur Wiedergewinnung der Sprachlichkeit von Musik, und zwar ohne in vergangene Muster zurückzufallen?